Südafrika Drakensberge Sonnenuntergang
Persönliches

Wie die Ferne meinen Blick für das Nahe schärfte

Zugegeben: Ich habe eine Weile gebraucht, um das zu begreifen – dass wir nicht grundsätzlich in die Ferne schweifen müssen, um Unbekanntes zu entdecken. Um Abenteuer zu erleben, die für immer bleiben werden.

Vielleicht musste ich jahrelang um die ganze Welt reisen.
Musste Nächte unter dem Sternenhimmel in der Wüste erleben und zwischen unendlicher Wildnis im afrikanischen Busch. Musste durch die Mongolei und diese kleine Insel im Ozean vor Tasmanien laufen, um endlich in meiner Heimat ankommen zu können.

Dieses Ankommen ist freilich nicht von Heute auf Morgen passiert. Diese Erkenntnis, dass das Gute sehr nah liegen kann, hat sich nicht über Nacht in meinem Sinn festgesetzt. All das war vielmehr ein langsamer, aber stetiger Prozess.

An dieser Stelle möchte ich euch die folgende Geschichte erzählen.

Diese Geschichte spielt in meiner Heimat, dem Chiemgau. Und in der ganzen Welt.

Gerade fühle ich mich ein kleines bisschen wie Alice im Wunderland. Allerdings ohne die wohl frisierten Haare, definitiv ohne das Kleid und die polierten Schuhe.

Stattdessen ziemlich zerzaust und verschlafen, ein Rucksack auf dem Rücken, die Füße stecken in Wanderschuhen, die sich eben noch laut schmatzend durch den matschigen Waldboden gekämpft haben.

Die Bäume aber haben wir jetzt hinter uns gelassen. In völliger Stille, in der wir fast den Nebel auf unsere Schultern rieseln hören, laufen wir über einen letzten Wiesenhang hinauf zum Kamm.

Es ist einer dieser Herbsttage, an denen irgendwer irgendwann mal beschlossen hat, der Herbst hätte es verdient, als golden gefeiert zu werden. Das Tal liegt im Nebel, der sich nach Sonnenaufgang verziehen wird, und wir können ganz sicher sein, dass der Himmel darüber in seinem tiefsten Blau strahlen wird. Die Wiesen und Bäume sind mit einem knisternden Schleier aus Frost überzogen, das Laub strahlt in allen Tönen, die auf der Farbskala zwischen hellem Gelb und tiefem Rot zu finden sind.

Und in der Luft hängen immer noch all die Erinnerungen an den Sommer. 

Mit dem letzten Schritt auf den Bergkamm schießen mir noch viel mehr Erinnerungen in den Kopf. Auch welche, die viel älter sind als die an den letzten Sommer.
Wir stehen so weit oben, so losgelöst von der Landschaft um uns herum, dass wir zu allen Seiten in die Täler nach unten schauen können. Die liegen unter einer Nebeldecke verborgen, die der orange-pinke Streifen des Sonnenaufgangs vom tief blauen Himmel trennt.

Ich habe Bilder im Kopf.

Von einer Wanderung entlang der Grenze zwischen Südafrika und Lesotho – auf einen 3.000 Meter hohen Gipfel, der mit seinem kleinen Horn so markant ist, dass er uns schon hundert Kilometer vorher bei der Anreise aufgefallen war. Wir hatten es uns in den Kopf gesetzt, diese lange Tour irgendwie an einem so kurzen Wintertag zu meistern.
Die Stimmung, die uns belohnt hat, war eine ähnliche wie die gerade. Die Gänsehaut genau dieselbe. Nur, dass wir dabei hinunter in die weiten Ebenen KwaZulu-Natals in Südafrikas geschaut haben. Und nicht auf den Chiemsee in Bayern.

Mittlerweile aber weiß ich: Dieses Gefühl, das ich noch Jahre später nachempfinden kann (und wenn ich das schon in eben diesem Moment weiß, dann sind das ohnehin die besten Erlebnisse) – dieses Gefühl hat nichts mit Südafrika zu tun. Und auch nicht mit dem Chiemgau.

Und obwohl der Herzschlag ein besonderer ist, bei dem wir begreifen, dass wir gerade wirklich in Afrika stehen – so ist auch der ein besonderer, bei dem wir begreifen, wie außergewöhnlich ein Moment ist, für den wir nicht extra in die Ferne reisen müssen. Ein Moment, der immer und immer wieder passieren kann. Ohne tagelange Anreise, ohne, dass wir aus den verbleibenden Urlaubstagen eine abireife Rechenübung abliefern.
Und ohne, dass wir befürchten müssen, dass wir es an diesen Ort in diesem Leben vielleicht kein zweites Mal mehr schaffen werden.

Denn, Hand aufs Herz: Woran erinnerst du dich, wenn du eine Reise im Kopf noch einmal erlebst?

An den Moment, als du gesehen hast, wie ein wahrscheinlich recht kurz angebundener Grenzbeamter einen neuen Ländernamen kaum leserlich in deinen Reisepass gestempelt hat?
Oder aber erinnerst du dich an all die Abenteuer, die Erlebnisse und Begegnungen, die zwischen diesem Einreise- und dem Ausreisestempel passiert sind?

Wenn ich mich an all meine Abenteuer und Reisen in nahe und sehr ferne Ecken der Welt erinnere, dann denke ich nicht an Australien, Afrika, an die Mongolei, die Sahara, das isländische Hochland oder das Kaukasus-Gebirge.

Stattdessen erinnere ich mich an den Moment, als wir im Australischen Outback mit unserem Camper im Sand stecken geblieben sind und mir zwei Stunden lang die Mittagshitze auf die Schultern gebrannt hat. Ich denke an eben die Wanderung an der Grenze zwischen Südafrika und Lesotho und an den Sonnenaufgang. Daran, wie meine Knie immer tiefer im Sand versunken sind, als wir im Gebüsch auf Tiere gewartet haben. Ich denke an die Millionen Sterne am Himmel, und die Nacht, als ich das Sternbild des Orion zum ersten Mal selbst gefunden habe.

Diese Liste ist unendlich, im Prinzip aber kann ich sie ganz kurz zusammenfassen:
Wenn ich mich an all meine Abenteuer und Reisen in nahe und sehr ferne Ecken der Welt erinnere, dann denke ich an unvergessliche Erlebnisse zurück. 

Und ja, die Exotik eines Ortes, die neuen Gerüche in der Luft, fremde Eindrücke und die Zeit, die wir gebraucht haben, um anzukommen – das sind definitiv Faktoren, die lebenslange Erinnerungen begünstigen. Trotzdem sind es nur vier. Von ingesamt wie vielen? Duzenden, Hunderten?

Heute bin ich unendlich froh, dass ich das mittlerweile begriffen habe.

Ich bin weniger von Fernweh geplagt, seit ich mein Glück nicht mehr nur dort suche. In der Ferne.

An meiner Liebe zum Reisen hat diese Erkenntnis freilich nichts geändert. Doch seit ich versuche, Erinnerungen, Erlebnisse und Abenteuer von allen Kontinenten zu mir zu holen, anstatt immer nur zu ihnen zu reisen, begleitet mich Tag für Tag eine neue Art von Lebensgefühl. 

Zum Beispiel an einem Freitagmorgen im Oktober. In den bayerischen Alpen, mit Blick auf den Chiemsee, den ich schon – wie oft? – Dutzendende Male vorher gesehen habe. Aber diesen einen Moment an diesem einen Freitagmorgen, der so schön ist, dass ich mich fühle wie Alice im Wunderland – den erlebe ich gerade zum ersten Mal.

Und genau, wie ich mir beim Sonnenaufgang in den südafrikanischen Drakensbergen sicher war, dass er ein Leben lang bleiben wird – so sicher bin ich mir auch bei diesem Sonnenaufgang in den Chiemgauer Alpen.

3D Cover von In Deutschland um die Welt

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Seit ich mein Glück nicht mehr nur in der Ferne suche, erlebe ich die schönsten Momente unverhofft und überall.
In Deutschland um die Welt ist eine Sammlung an Erlebnissen von allen Kontinenten, für die wir nicht in die Ferne reisen müssen.

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