Wo die Einsamkeit am größten ist: Zu Fuß in der Mongolei
Mit einem Rucksack auf den Schultern, der vollbepackt halb so groß ist wie ich selbst, wütend, verzweifelt und mit Tränen in den Augen stecke ich bis zur Hüfte in einem tosenden Fluss fest. Ich stecke fest, weil die Strömung hier an der tiefsten Stelle plötzlich so stark ist, dass ich mich keinen Schritt weiter traue. Hebe ich jetzt nur einen Fuß weg vom glitschigen Steinboden, reißen mich die Wassermassen mit und mein viel zu großer Rucksack verwandelt sich plötzlich in einen Anker, der mich runter auf den glitschigen Boden zerrt und nie wieder nach oben lässt. Da bin ich mir sicher. Das Wasser strömt allerdings nicht nur mit erschreckender Wucht zwischen meinen Beinen durch, sondern auch in einer Eiseskälte. Natürlich, es ist Gletscherwasser. Die schneebedeckten Gipfel der viertausend Meter hohen Berge sehe ich in diesem Moment sogar. Dass mich kein ruhiger Tümpel in Badewasser-Temperatur erwartet, hätte ich mir denken können. Einen anderen, trockenen Weg hätte ich trotzdem nicht wählen können. Wege gibt es hier nicht. Ich bin froh, wenn ich nicht wieder von Hügelchen zu Hügelchen, von einem Quadratmeter festem Untergrund zum nächsten, springen muss, um einen Sumpf zu durchqueren. Dabei muss ich aussehen, wie die Figur aus einem alten Computerspiel, die auf Befehl der Pfeiltasten auf und ab hüpft, um nicht zu versinken. Nicht untergehen, nicht versumpfen, immer weiter laufen – dieses Credo begleitet mich wochenlang.
„Geh!…sofort!…weiter! Geh!…sofort!…weiter!“
Jetzt aber erwischt es mich schlimmer. Ich stecke in einem Gletscherfluss fest, irgendwo in einem kleinen Tal im Westen der Mongolei. Will nicht vorwärts, nicht rückwärts. Will mich eigentlich nur an einen warmen Platz setzen und essen, oder immerhin raus aus dem Fluss. Selbst das erscheint mir in diesem Moment unmöglich. Wieder fühle ich das Gewicht meines Rucksacks auf den Schultern und habe den Anker vor Augen, der er gleich sein wird. Bis mich etwas aus den Gedanken reißt. Mein Weg- und Reisegefährte, mein Partner in allen Zeiten, der nicht nur in der Mongolei von Tag zu Tag mehr zu meinem Held wird, steht am anderen Ufer und schreit mich an. Er brüllt so laut er kann, wirkt dabei Welten entfernt. Seine Stimme mischt sich mit dem Krach des tosenden Wassers, das meine Beine umspült. „Geh!…sofort!…weiter! Geh!…sofort!…weiter!“ Er merkt, dass die Situation für mich längst beängstigende Ausmaße angenommen hat. Die Erlebnisse der vergangenen Wochen brodeln in mir, Stärke und Kraft hat der Fluss in dieser Sekunde weggespült. Die entfernte Stimme schreit weiter, ich stehe gedankenverloren da, wie weggetreten und unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Geschweige denn, einen festen Schritt nach vorne zu wagen.
Am Ende ist Felix es, der seinen Rucksack neben sich auf den Boden schleudert, die eigenen Wanderstöcke fest umkrallt und mich mit seiner letzten Energie aus dem Fluss schleift. Am Ufer sitze ich zitternd, ich weine und weiß nicht, was mich mehr mitnimmt: Dass meine Zehen inzwischen blau vor Kälte sind oder das Wissen, dass es in unbekannten Umkreis niemanden gibt, der uns irgendwann zu Hilfe gekommen wäre. Vielleicht treibt nur zehn Kilometer entfernt ein Nomade Ziegen auf seinem Pferd durch das enge, schluchtartige Tal, vielleicht ist er auch 80 Kilometer weit weg. Ein Gedanke, der von unendlicher Freiheit und Schwerelosigkeit geprägt ist, genauso wie er eine Angst in mir auslöst, die ich noch nie zuvor verspürt habe. Obwohl die Mongolei mehr als viermal so groß ist wie Deutschland, leben dort nicht einmal drei Millionen Menschen. Mit jedem Schritt, den wir mit unserem Gepäck, das unser Leben sichert, auf mongolischen Boden entlang stolpern, bekommen wir das zu spüren.
Natürlich wussten wir, worauf wir uns einlassen. Das war es sogar, was die Anziehung dieses Landes für uns ausgemacht hat. Als unsere Entscheidung fiel, das Leben in Deutschland auf unbestimmte Zeit zu unterbrechen, wollten wir entfliehen. Dem Alltag, von dem wir nicht sicher waren, ob er der richtige für uns war, der Stadt und ständigen gesellschaftlichen Eigenheiten, die uns immer öfter störten. Mit Astronautennahrung, einem Benzin-Kocher und einhundert Jahre alten russischen Militärkarten wollten wir zurück zu Null und uns selbst beweisen, dass das einfache Leben so vieles mehr zu bieten hat als wir bisher wussten. Die Mongolei als der Staat mit der weltweit niedrigsten Bevölkerungsdichte und unberührter Natur, die von Wüste in Steppe und Hochgebirge übergeht, war genau das, wonach wir suchten. Und das, was wir brauchten. Die Menschen dort sollen gleichzeitig die herzlichsten sein, die nur irgendwo leben. Wenn man sie eben aufspürt.
Die schüchternen Mongolen zu treffen ist die eine Herausforderung.
Kontakt aufzunehmen die zweite. Sich dann tatsächlich zu verständigen die dritte und größte. Die ganze Last des beinahe zwanzig Kilo schweren Überlebenspaktes auf meinem Rücken scheint sich in Luft aufzulösen, als wir am Horizont nach Tagen ein kleines, dreckig-weißes Rundzelt mit dampfendem Schornstein erkennen. Eine mongolische Jurte, in der mindestens zwei Generationen wohnen, mehrere Kilo harter Ziegenkäse und fettiges Fleisch lagern. Die unendliche Verlorenheit, die mich völlig zu verschlucken scheint, wenn ich mich im tosenden Fluss keinen Schritt weiter traue oder der Sturm nachts droht, unser Zelt mit uns und unseren letzten Sachen niederzureißen, ist dann wie weggeblasen. Die Jurte – ein Muntermacher, ein Lichtblick, eine erleichternde Abwechslung in der großen Einsamkeit.
Auch wir bleiben dann nicht mehr lange unbemerkt. Bedrohlich große Greifvögel kreisen über unseren Köpfen, der Falkner ist das Familienoberhaupt der Jurte. Hunde preschen kläffend auf uns zu, gefolgt von einem Reiter oder Kindern, die schreiend und mit roten Bäckchen hinter ihnen her rennen. „Willkommen“ auf Mongolisch. Das muss all das heißen, denken wir. Denn schon kurze Zeit und einige anstrengende Schritte später sitzen wir auf einem geknüpften Teppich in der Jurte, eingepfercht zwischen einem Haufen halbrohem, fettigen Fleisch, Schüsseln mit gegorener Stutenmilch und allen Familienmitgliedern, die uns wortlos anstarren. Unsere Unbeholfenheit lässt das ein oder andere Lächeln über ihre Lippen huschen, dann friert ihr Blick wieder ein. Bestimmt kein Zeichen von Forschheit. Ihre Zurückhaltung mischt sich mit Scham, keine andere Sprache zu sprechen als ihre eigene und ihren oft so markanten Gesichtszügen, die osteuropäischen Wurzeln erahnen lassen.
Wir malen unser Alter in den Sand. 22. 30. Sie machen es uns nach und zeichnen die Lebensjahre sämtlicher anwesender Familienmitglieder daneben. Manchmal wohnen acht, neun oder zehn von ihnen in ein oder zwei Jurten. Dann ist der staubige Sandstreifen zwischen Teppich und Tierfell voller Zahlen. Wir zeigen ihnen unsere alten, russischen Militärkarten, deren Ortsnamen wir vorher übersetzt haben. Sie sind die einzigen Landkarten, die für unser Vorhaben, den mongolische Westen zu Fuß als Selbstversorger zu durchqueren, präzise genug waren. Mit unseren Fingern fahren wir die Route nach, zehn Köpfe beugen sich über den blassen Kartenabschnitt, die Augen werden riesig. Dann nicken alle und einer von ihnen schwingt Zeige- und Mittelfinger so von vorn nach hinten, als würden die Finger laufen. Er schaut fragend, wir nicken, dann bekommen wir von ihm den Daumen nach oben. Fortan ist das die Geste, mit der wir den Mongolen unser Vorhaben erklären. Zwei Finger wackeln und sie verstehen uns. Besser könnten wir es nicht ausdrücken. Unser Mongolisch begrenzt sich auf ein paar Höflichkeitsfloskeln und die Worte Wasser, Fluss und Dorf. Englisch ist in der mongolischen Steppe noch nicht angekommen. Unsere Notwaffe: Ein kleines Buch mit 600 Bildern, die sämtliche Lebenssituationen widerspiegeln sollen. Unser Ohne-Wörter Buch, das aussieht wie ein Bildband für Kinder und oft für ein Schmunzeln sorgt. Mehr aber nicht. Am Ende wackeln wir wieder mit den Fingern, die Mongolen strecken ihre Daumen nach oben und wir marschieren weiter.
Untereinander brauchen wir längst keine Worte mehr.
Schnell holt uns wieder die Einsamkeit ein. Zu zweit allein, andauernd, umgeben von so vielem und doch nichts. Ein paar Zahlen im Sand sind der Kontakt, nach dem wir uns nach Tagen des Alleinseins so sehr sehnen. Jede Zahl, jedes schnelle Lächeln und die kleinen wackelnden Finger saugen wir gierig in uns auf. Für kurze Zeit strömt dann Beruhigung durch unsere Körper und wir zehren von ihr, wenn wir vor dem nächsten Fluss stehen. Untereinander brauchen wir dann längst keine Worte mehr, auch kein Gekritzel im Sand. Wir schauen einander an und erahnen, welche Gedanken dem anderen gerade durch den Kopf jagen. Wir bauen aufeinander, verlassen uns mit allem Vertrauen, das in uns ist. Sonst ist sowieso niemand da, nur wir und ein halbes Kilo Käse in der Jackentasche, das wir in der Jurte nicht ausschlagen durften. Unsere innere Stärke, mit Situationen umzugehen, funktioniert wie eine Wechselwirkung. Das eine Mal muss Felix mich aus dem Fluss schleifen, weil ich wie in Schockstarre zwischen den Fluten gefangen bin. Das andere Mal balanciert er das brüchige Ufer zwischen Fluss und Bergflanke entlang, bis er einen Schritt zu schnell setzt. Schwer bepackt und zusammen mit einem Brocken aus Matsch, losen Steinen und Erde, auf dem er gerade noch gestanden ist, stürzt er in die Wassermassen. Wie ein Käfer mit Rückenpanzer wird er auf seinem Rucksack von der Strömung vorangetrieben. Erschrocken und ebenso unfähig wie ich es war, einen klaren Gedanken zu fassen. Oder etwas sinnvolles zu tun. Dann bin ich diejenige, die ihn anschreit und den Wanderstock schließlich als Rettungsleine benutzt. Bei diesem Sturz ins Wasser verliert Felix nicht nur das halbe Pfund Käse aus seiner Jackentasche, sondern auch eine Menge Energie aus dem Tank, der sich bei jedem Kontakt mit Einheimischen oder Glücksmomenten in der unendlichen Weite wieder füllt. Immer dann, wenn der Energiestand unserer Tanks in den rot gefärbten Reservebereich absackt, passiert ein kleines Wunder, das unsere Kraftreserven wieder übersprudeln lässt.
Die Zahnbürste in der Hand, Tränen in den Augen.
Die Wanderstiefel noch Nass vom Vortag im Fluss, stehe ich an diesem Morgen mit der Zahnbürste im Mund vor unserem Zelt. Nach einer Nacht, in der die Temperatur nur knapp über Null Grad gewesen sein kann, friere ich. Mit den nassen Schuhen und der klammen Hose erst recht. Wenn ich jetzt daran denke, meinen schweren Rucksack wieder zu schultern und auf der Hüfte an der Stelle festzuzurren, die mittlerweile schon wund von der ständigen Reibung ist, will ich mich im Zelt verkriechen. Auch, wenn es dort feucht und modrig riecht.
Lange höre ich die groben Rufe nur. Ein kratziges „Hoi, hoi, hoi“ hallt durch das enge Tal, vorbei an dem steilen Berghang, in dessen Schutz wir unser Zelt aufgeschlagen haben. „Hoi, hoi, hoi! Hoi, hoi, hoi!“ Die Schreie werden lauter. Klingen, als ob ein Urvolk zur Jagd aufbrechen würde. So zumindest hätte ich mir das vorgestellt. Der Anblick, der sich uns Minuten später bietet, erschlägt uns beinahe. Eine Herde dutzender Pferde donnert auf uns zu. Ein riesiger Krach. Wiehern, Tiergeschrei, „hoi, hoi, hoi“. Als uns die Nomaden auf ihren Pferden entdecken, scheinen sie ebenso entgeistert wie wir. Was machen wir da auch? Und was machen die? Als eine Horde unzähliger Yaks folgt und hunderte Ziegen fast zeitgleich den steinigen Berghang entlang schlittern, dämmert es uns: Es ist Herbst, zweimal im Jahr ziehen die Nomaden um. Einmal kurz vor Winter, einmal kurz danach. Die Wahrscheinlichkeit, in einem Land mit knapp drei Millionen Einwohnern, viermal so groß wie Deutschland, Zeuge eines solchen Ereignisses zu werden, geht gefühlt gegen null. Und so stehe ich da, zur richtigen Zeit am richtigen Ort, die Zahnbürste in der Hand, Tränen in den Augen, und kann mein Glück kaum glauben.
Die Pferde galoppieren in erschreckendem Tempo auf uns zu, streifen unser Zelt beinahe, machen kurz vorher schockiert einen Satz zur Seite. Mit unserem Zelt sind wir Eindringlinge in einer ganz eigenen Welt, die an uns vorbeizieht wie im Traum. Als der älteste Nomade, wahrscheinlich das Familienoberhaupt, auf unserer Höhe ist, zieht er die Zügel stramm und befielt seinem Pferd, zügig stehenzubleiben. Unter seinen Füßen baumeln ein paar Balken des Jurten-Gestells, die woanders keinen Platz mehr fanden. Auf einem Dromedar, das er an einem Strick hinter sich her zerrt, sitzt das jüngste Familienmitglied in einem selbst zusammengehämmerten Kindersitz. Er grüßt uns, doch weil unweit entfernt immer noch hunderte Ziegen mit einem riesigen Krach den schottrigen Berghang entlang schlittern, können wir ihn kaum hören. Wir bewegen Mittel- und Zeigefinger und zeigen ihm, dass wir laufen. Ich strecke meinen Arm in die Richtung, die wir anpeilen. Versteckt zwischen steinigen Gipfeln liegt dort ein Bergsee. Khukh nuur, das Ziel unseres Marsches durch den Westen der Mongolei. Der Nomade auf seinem Pferd versteht, lächelt und es sieht so aus, als würde ein Funken Mitleid über sein Gesicht huschen. Wenige Stunden später, als die Nomadenfamilie mit all ihrem Besitz an uns vorbeigezogen ist, unsere Rucksäcke wieder auf den Hüften scheuern und die nassen Stiefel bei jedem Schritt schmatzen, kann ich mir vorstellen, an was der Nomade gedacht hat. Wieder stehen wir vor einem tosenden, glasklaren Fluss, der uns den Weg versperrt. Glasklar bedeutet auch dieses Mal eiskalt. Der Nomade weiß von diesem Hindernis und vermutlich auch von den sieben weiteren eisigen Flussdurchquerungen, die uns noch bevorstanden.
Der Anblick unzähliger Yaks, Pferde und Ziegen, wie sie unser kleines Zelt am Ende der Welt umströmen und die Erinnerung an die Mongolen-Familie, die uns ein halbes Kilo Käse in die Jackentasche steckt, lässt das kalte Wasser jedes Mal ein paar Grad wärmer wirken und die Strömung ruhiger. Die Begegnungen in der einsamen Steppe, die Menschen, die wir nicht verstehen, sind es, die uns immer wieder zum weitergehen bewegen. Und wir selbst sind es letztlich, die einander aus der Strömung ziehen. Wir lernen, was es bedeutet, in unendlicher Einsamkeit Grenzen zu überwinden und Flüsse zu durchqueren. Wie süchtig Zahlen im Sand und kleine Handbewegungen machen können. Und letztlich auch, dass eine ausgestreckte Hand im tosenden Fluss einen wahren Helden ausmachen kann.
Unsere Route: Ein Inslandsflug von der Hauptstadt Ulan-Bator nach Khovd. Dann 200 Kilometer mit einem Fahrer durch Flüsse und über Straßen, die keine sind. Dann laufen wir endlich los: Am Fluss entlang nach Sagsay. Von dort aus in einem Bogen über den Bergkamm nach Ölgii. Mit dem Auto nach Ulaangom für unsere letzte Etappe zum Bergsee Khuuk Nuur. (Klicke auf die Marker, um die Beschreibung zu lesen.)
Marsch durch die Mongolei erzähle ich im Buch!
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3 Comments
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Worthseeing
Ein sehr schöner Bericht. Man fühlt sich fast als wäre man mit dabei gewesen. Und die Fotos sind auch klasse! Weiter so! 🙂
Franziska Bär
Lieben Dank für das schöne Feedback! Wir freuen uns sehr, dass wir dich zumindest in Gedanken mit in die Mongolei nehmen konnten 🙂